Zwischendrin.

Austellungsdoku,
“Longing to belong” 2017 Valparaiso, Chile

 

 

Ich bin weder Ungar,
noch bin ich Deutscher.
Ich bin zwischendrin.

Die ersten Jahre meiner Kindheit bin ich in einer Siedlung für Flüchtlinge
aufgewachsen. Das waren ordentliche Mietwohnungen bewohnt von Flüchtlingen aus Ostdeutschland,
oder auch aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Das weiß ich nicht,
weil ich als Kind von diesen Dingen noch nichts gewusst habe.

Meiner Mutter Sprache war ungarisch.
Ich lernte erst im Kindergarten deutsch.

Als Kind fühlte ich mich als Ungar.

Die Deutschen seien Spießer,
hörte ich die Erwachsen sagen.
Sie könnten nicht einmal Kaffee kochen,
hörte ich die Erwachsenen sagen,
und wenn sie an der Wohnungstür klingelten,
um sich ein Ei zu leihen,
würden sie dafür zahlen wollen.

Immer wieder wurde die Geschichte erzählt,
von dem Deutschen,
der einen von uns als Pusztamenschen beschimpft hatte,
weil er, dieser ungarische Prachtmensch, es gewagt hatte, den Rasen zu betreten,
und diesen nicht nur betreten hatte, sondern auch noch zu überqueren wagte.

Es könnte sein,
dass es so etwas wie eine Arroganz der Migranten gibt,
aus dem Bedürfnis heraus,
sich ihres eigenen Wertes und ihrer Werte zu vergewissern,
in der Haltlosigkeit des Fremden.

Die Deutschen waren Spießer,
und wir waren anders.

Meine Mutter nähte sich Glitter auf ihr Kleid,
für den ungarischen Ball.
Sie sagt immer: dieses Der, Die, Das und seufzte.
Das hieß wohl, die deutsche Sprache ist eine schwere Sprache.
Ich glaube, sie hat nie so gut Deutsch gelernt wie mein Vater.

Meine Eltern waren 1956 nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand in Ungarn nach Deutschland gekommen.
Lange mussten sie warten,bis sie Ungarn wieder besuchen durften.
Erst mit dem Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft konnten sie das tun.
Sonst, man hätte sie dortbehalten.

Des übrigen wurden die ins Ausland geflüchteten Ungarn zu Hause
von offizieller Seite gerne als ‘die ins Ausland verlorenen Söhne unserer Heimat“ genannt.
Das war eine Floskel wie hier in Deutschland, „in diesem unseren Lande“ oder „deutsche Leitkultur“.
Nur das das hier etwas nüchterner abgeht. Die Ungarn, die neigen halt zum selbstmitleidigem Pathos.

Fluchen aber, das können die Ungarn besser als die Germanen,
bestimmt aber deftiger, so deftig sind ihre Flüche, dass ich sie hier nicht auf Deutsch wiederholen werde.

Die ungarischen Schlagbäume waren dick und rot-weiß-grün bemalt.
Meine Eltern hatten immer Angst, dass wir, meine Schwester und ich,
beim Grenzübertritt etwas Falsches sagen würden.

Der ungarische Grenzbeamte untersuchte die vielen Rollen Klopapier,
die wir mitführten, aufs gründlichste. Er vermutete wohl Drogen.
Westliches Klopapier schmierte nicht, das ungarische schon.

Das war noch die Zeit,
als in Ungarn noch Kommunismus war,
und das Weißbrot so billig,
dass es weggeworfen wurde,
wenn es älter als einen halben Tag war.

Und wenn wir dann da waren,
dann war alles schön.
Ich durfte den ganzen Tag barfuß laufen,
und es war Sommer und es war heiß.

Die Tomaten schmeckten, und die Paprika, und das Brot schmeckte,
es schmeckte einfach alles.
Ich durfte zusammen mit den Erwachsenen Wein trinken,
den kaufte Großvater aus dem großen Garten eines ehemaligen Bauern.
Großmutter backte jeden Tag einen neuen Kuchen.
Wenn ich Glück hatte wurde am Strand gekochter Mais verkauft, oder Langos.

Die Mücken bissen nur meine Schwester, ein kleiner, aber immerwährender Triumph für mich.

An heißen Sommertagen verspüre ich auch heute noch manchmal maßloses Glück,
das muss wohl an den Sommern von früher liegen.

Überhaupt spielt die Kindheit bei uns allen
eine weit größere Rolle, als uns meistens bewusst sein dürfte.
Nur bei den Bewohnern, da sind wir gescheit,
und schnell steht dann im Computer das schön klingende Wort Biographiearbeit.

Meine Eltern besuchten die Freunde von früher,
jeder Freund wurde besucht. In Ungarn hatten meine Eltern immer volles Programm.

Kam dann die Sprache auf politische Themen,
steckten die Erwachsenen die Köpfe zusammen, und fingen an zu flüstern.
Das beindruckte mich sehr.

In der Tschechoslowakei war ein Volksaufstand ausgebrochen. Man zählte das Jahr 1968.
Ich war acht Jahre alt. Es war Sommer. Wir waren in Ungarn. Auf der Straße fragte mich ein Kind,
ob ich zu den guten Deutschen oder zu den schlechten gehören würde.
Ich wusste nicht, dass es solche und solche gab.
Die Frage war mir unangenehm.

Dann erfuhr ich, dass die guten Deutschen
gerade in der Tschechoslowakei einmarschierten,
um den Sozialismus und die Werktätigen zu retten.

Da war es, dieses Zwischendrin:
Ich fühlte mich als Ungar, und musste mich entscheiden,
was für ein Deutscher ich war.

In Deutschland aber wurde ich immer wieder gefragt,
warum denn ich so gut Deutsch könne.
Anscheinend hielt man mich für einen Ausländer.

Als ich dann meiner Kindheit entwachsen war,
und mein Elternhaus verlassen hatte,
ließ ich die Spuren Ungarns hinter mir zurück.
Mich beschäftigten jetzt andere Dinge.

Aber immer noch ist dieses Ungarn nicht aus mir wegdenken.
Wenn sich die Ungarn besonders schäbig verhalten Flüchtlingen gegenüber,
dann schäme ich mich.
Wenn ich ein sehr gutes Buch von einem Ungarn geschrieben lese,
dann ist da auch etwas stolz.

Und ja, ich denke nach über die Ungarn,
warum sie jetzt so dämlich nationalistisch sind,
und warum sie in aller Welt,
ihr verpisstes ungarisches Blut reinhalten wollen.

Ein kleines Volk, es hat Angst vor dem Untergang.
Zuerst waren sie von den Türken besetzt,
dann von den Österreichern
und am Ende von den Russen.

Jetzt haben sie diesen riesigen Zaun gebaut,
um den ungarischen Boden zu schützen vor fremden Fußtritten.
Gott beschütze uns vor den Invasoren aus Afrika
und den Muslimen, sagt Herr Victor Orban.

Die Geschichten, die ich las als Kind, handelten
oft von einem Volk von Helden und Kämpfern.
Da war auch eine Geschichte von dieser Burg, die belagert wurde
von einer Übermacht von muslimischen Invasoren,
aber unter dem Burgkapitän Dobo wiederstanden die tapferen Ungarn
jedem Ansturm.

Und genau das machen sie jetzt wieder,
die Ungarn, und in ihren Erzählungen
wird Ungarn zur Burg, und der Autokrat Orban zum Burgkapitän.

Ungarn war die Heimat meiner Eltern,
als Kind glaubte ich, es wäre auch die meine.
Aber ich bin dort fremd.

Ich werde aber auch nie ein richtiger Deutscher werden,
zu viel Ungarn ist in mir drin.

Die staubigen Farben der Sommer meiner Kindheit,
die Bücher, die ungarische Herzlichkeit, die ich als ganz besonders empfand,
eine Wärme schien mir da, die ich in Deutschland so selten fand.

Diese Farben meiner Kindheit,
das sind die Farben nach denen ich, ohne es zu wissen, gesucht habe,
als ich anfing zu fotografieren. Meine Diplomarbeit fotografierte ich in Ostdeutschland,
kurz nach der Wende war das, und das war das Deutschland,
das mich an Ungarn erinnerte. Ostdeutschland, auch das war mein Zwischendrin.

Und immer wirkt die Kindheit in einem fort,
bei allem was wir tun und denken, wir wissen es bloß nicht.

Und wie es den Alten so geht in Ungarn?
Das kann ich Euch nicht sagen.
Ich kannte nur meine Großeltern.

Mein Großvater väterlicherseits unterrichtet Deutsch,
solange er noch konnte. Großmutter mütterlicherseits
war Lehrerin in einer Kleinstadt. Sie kannte alle und jeden,
und auf dem Markt vor ihrer Haustür bekam sie immer das beste Stück Fleisch.
Bei ihr verdarb ich immer meine Magen, sie kochte noch mit Schweineschmalz.
Auch sie gab Nachhilfeunterricht bis ins hohe Alter.

Zuerst hatte mein Großvater einen Schlaganfall. Er konnte kaum noch sprechen,
und ärgerte sich über sich selbst.
Großmutter durfte ihn endlich korrigieren und war ungeduldig mit ihm.

Dann starb Großvater, und landete in einer Urne im Regal.
Es kam ein Wellensittich ins Haus und wurde Spatzi Jókay genannt.
Großmutter wendete sich der Weisheit des Buddhismus zu.
Sie blieb bis zuletzt zu Hause und vom jüngeren Bruder meines Vaters betreut.

Meine Großmutter mütterlicherseits hat ihre beiden Töchter überlebt.
Sie war weit über achtzig, als ich sie das letzte Mal besuchte,
und als ich dann, am Ende, zum Bus musste, knapp war ich dran,
rannte sie neben mir her, als wäre das nichts.

 

 

2017 als Vortrag gehalten vor meinen Kollegen im Altersheim,
im Rahmen des Projekts “kultursensible” Pflege.

Statt „kultursensibler Pflege“,
bräuchten wir einfach nur die Bedingungen und den Willen zu einer sozusagen,
„sensiblen Pflege“, getragen von der Wertschätzung
und demzufolge dem grundlegend respektvollen Umgang mit den Menschen,
die auf unsere Hilfe angewiesen sind.